geändert am 17.01.2007 - Version Nr.: 1. 18

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Kunst-Kultur

~ Dr. Dieter Porth - Internet

"Was ist eine gute Kunstkritik?" - Ein Streitdialog zwischen Daniel Costantino und Dr. Dieter Porth.

Zusammenfassung

Täglich erscheinen in verschiedenen Zeitschriften, Journalen oder Fachzeitschriften. Aus Anlass einer Kritik und auf Anregung von Daniel Costantino entstand die Idee zu diesem Schriftdialog über die Frage, was eine gute Kritik ist.
Für mich ist dieser Dialog eine Reflexion über meine gewählte Form der Musikkritiken. Meine Hoffnung ist, dass der geneigte Leser vielleicht viel schneller erkennt, welche Grenzen eine Kritik hat und welche Zielrichtungen Kritiker mit ihren Kritiken verfolgen.
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Pressemitteilung Kontaktlink zu Bürgerstimmen im Göttinger-Land [ Homepage ] (Dr. Dieter Porth)

[Internet - 20.12.06] [Bericht]

"Was ist eine gute Kunstkritik?" - Ein Streitdialog zwischen Daniel Costantino und Dr. Dieter Porth

Die Antwort auf deinen Artikel fiel mir schwerer als ich mir anfangs ausmalen mochte. Deine Antwort ist komplex und dein Text enthält eine ganze Reihe von Aspekten, über die ich bisher wenig nachgedacht habe. Lange bereitete mir die Form Schwierigkeiten, wie ich angemessen und effizient antworten kann. Denn neben den Inhalten und ein Frage bestimmt immer auch die Form den Erfolg von Überlegungen. Ich habe mich für das folgende Vorgehen entschieden. Ich werde wichtige Zitate (nach meiner Ansicht) als Startpunkt für meine Überlegungen verwenden. Dabei sind mir folgende Aspekte wichtig.
- Welchen Stellenwert hat die Objektivität in einer guten Kunstkritik?
- der "uniformierte" Leser
- Was ist ein Kunstwerk und was zeichnet den Kunstakt aus?
- Ist die Trennung vom künstlerischen Akt und kultischen Fest gerechtfertigt? (Musik-Literatur?)
- "das künstlerische im menschen ist zwecklos. nicht selbstlos. gerade voller selbst:"

- Welchen Stellenwert hat die Objektivität in einer guten Kunstkritik?
Dein Verhältnis zur Objektivität wird für mich deutlich in folgenden Satz. "die objektivität, nach der das wort information riecht und schwitzt, stinkt wie ein aas, verhüllt den agitatorischen zweck und verschleiert die kriterien der auswahl; sie tut, als wäre sie neutral, leidenschaftslos, voller lauterkeit und gibt sich als höchster wert."
Ich stimme dir zu. Es gibt keine Objektivität. Dies weiß jeder gute Empiriker. Man nehme als Beispiel eine Karre, die einen Berghang hinunterrollt und in einer Matschkuhle stecken bleibt. Von Aristoteles bis Newton glaubten die Wissenschaftler, das jeder bewegte Gegenstand irgendwann zur Ruhe kommt. Diese Aussage ist richtig und lässt sich in der Realität immer wieder beobachten. Seit Newton glaubt man dagegen, dass ein einmal angeschubster Gegenstand sich unendlich lange fortbewegen wird (Planetenbewegungen). Nur wenn der Körper einer Reibung ausgesetzt ist, verliert er seine Bewegungsenergie. Dies sieht man doch eindeutig am Beispiel von der Karre im Dreck. Die identische Beobachtung führt zu zwei unterschiedlichen Sichtweisen, die beide übrigens ihre Berechtigung haben.
Es gibt keine Objektivität. Es gibt lediglich Denkmuster, die man auf Beobachtungen in der Realität anwendet. Wenn ich eine Kunstkritik schreibe, dann versuche ich solche systematischen Denkmuster zu benutzen. Ein typisches literaturwissenschaftliches Denkmuster für Literaturkritik gründet sich beispielsweise auf den Lebenslauf eines Künstlers. Der Lebenslauf wirkt oft in die Kunstwerke hinein und entsprechend macht es Sinn, sich mit dem Lebenslauf auseinander zusetzen. Die Auseinandersetzung gibt Anhaltspunkt zum Verständnis für den Künstler und sein Werk.
Auf meiner Gedichtehitliste padina.com benutze ich ein anderes Denkmuster. Ich strebe bei der Auswahl der Gedichte eine gewisse Vielfalt an, die sich aus der Verschiedenartigkeit des Umfelds ergibt. In einem Forum vom verschiedenen Feierabenddichtern herrscht sicher ein anderes Klima als in einem Forum von Depressiven, wo ein Gedicht als therapeutisches Mittel benutzt wird. Wiederum ein anderes "Klima" herrscht auf der Schandfleck.ch-Website. Jedes Umfeld kann in die Gedichte hineinwirken. Die Vielfalt dieser Wirkungen will ich auf Padinas Gedichtehitliste erkennbar machen. (Anmerkung: ursprünglich entstand die Padinas Gedichtehitliste als Teil eine Radiosendungskonzepts. In der Radiosendung sollte über die Gedichte die Vielfalt der menschlichen Denk- und Sichtweisen in unterhaltbarer Form verdeutlicht werden. Die Geschichte der Entstehung wirkt also auch hier weiter.]
Ich stimme mit dir überein. Eine Kunstkritik kann nie objektiv sein. Eine gute Kunstkritik sollte intersubjektiv sein. Sie sollte die Denkmuster offen legen, nach welchen sie ein Kunstwerk analysiert. Wenn ein anderer Kritiker ein Kunstwerk nach dem gleichen Schema analysiert, sollte er zu den gleichen Schlussfolgerungen kommen. Dies bedeutet intersubjektiv.
Wenn ich ein Gedicht analysiere, dann kann ich das Leben des Künstlers oder das Umfeld der Gedichtentstehung analysieren. Ich persönlich halte bei der Analyse von Kunstwerken immer den Kommunikationsaspekt für wichtig. Wen will der Künstler ansprechen? Welche Mittel verwendet er dazu? Wie reagiert der Leser darauf? Dabei ist bei Gedichten dieser Aspekt der Kommunikation vielleicht nicht so wichtig; aber auch Gedichte entstehen nicht herausgerissen aus einem Zusammenhang, so dass ein Blick auf das Entstehungsumfeld und/oder ein Blick auf die Publikationsform sinnvoll ist.

- der "uniformierte" Leser
Du setzt spaßeshalber den informierten Leser mit dem uniformierten Leser gleich. Dies ist ein schöner Gedanke. Dabei ist für dich die Uniform eine Metapher, die im folgenden Satz. treffend beschrieben wird:
"... objektivität für nichts anderes als die uniform, hinter der sich die leidenschaft eines menschen versteckt. vielleicht ist sie zu eis gefroren? auch gut, dann bildet information die kruste, die zusammenhält, damit nichts herausbrechen kann. ..."
In diesem Satz schwingt auch dein Unbehagen gegenüber der Objektivität und den oft starren, manchmal wirklich verkrusteten Denkmustern (= Uniform) mit. Ich sehe eine intellektuelle Uniform bei weitem nicht so negativ wie du. Denkmuster bzw. intellektuelle Uniformen halte ich sogar für wichtig - gerade in einer Kunstkritik. Nach der Begründung gehe ich auf deine Abscheu gegen intellektuelle Uniformen ein, denn deine Abscheu fußt auf den Schwächen dieser Uniformen.
Wenn ich eine Kunstkritik schreibe, dann schreibe ich sie für den uninformierten Leser. Ich möchte dem Leser einen Eindruck von dem Kunstwerk (Musikdarbietung) geben. Bei Konzerten ist mir insbesondere auch die Interaktion zwischen Künstler und Publikum wichtig.
Wenn ich für uninformierte Leser eine Kritik schreibe, dann muss ich mich selbst beschränken. Ich möchte dem Leser meinen systematisch erfassten Eindruck vermitteln und ihm selbst ein Urteil erlauben. Vielleicht liest der eine oder andere Leser meine Kritiken regelmäßig und hat vielleicht das eine oder andere Konzert selbst miterlebt. Dann kann er seine Erfahrungen mit meinem systematischen Schreibstil abgleichen. Nach einem solchen Abgleich kann er, ohne den Auftritt gesehen zu haben, eher beurteilen, ob die Musik und das Konzert ihm zugesagt hätte. Dabei muss er voraussetzen, dass ich meine Wahrnehmung systematisiert habe. Oft verkneife ich mir sogar ein abschließendes Urteil; denn manche Musik mag ich weniger und manche Musik mag ich mehr. Die Uniform verfolgt den Zweck, den uninformierten Leser zu informieren. Dabei ist es wichtig, dass man sich selbst an bestimmte Standards und Schemata hält. Der uninformierte Leser verlässt sich darauf, dass er einen Eindruck vom Musikauftritt bekommt, den er nicht miterleben konnte.
Im Laufe meines Lebens hatte ich die Chance, viele verschiedene "Uniformen" (=Denkmuster bzw. Fragestellungen) kennen zu lernen. Es sind darunter chemische Uniformen, informatische Uniformen, mathematische Uniformen, physikalische Uniformen, pädagogische Uniformen, soziologische Uniformen, psychologische Uniformen, rhetorische Uniformen und auch ein paar ethnographische Uniformen. An den philosophischen und den wirtschaftlichen Uniformen habe ich mich versucht, aber die Fragestellungen dieser Uniformen haben meinem Verstand nie wirklich zugesagt. Auch die spirituellen und religiösen Uniformen haben mich nie interessiert, weil ihn Ihnen fast immer die Frage nach dem Sinn des Lebens steckt. (Angesichts meiner derzeitigen Arbeitslosigkeit hat mir die Belesenheit nicht wirklich viel genutzt oder die heutige Gesellschaft will trotz vielfältiger Bildungshymnen der Politiker eigentlich keine gebildeten Menschen mehr. Vielleicht kommt meine Zeit irgendwann noch einmal. Wer weiß?)
All diese intellektuellen Uniformen ermöglichen mir, ein Kunstwerk aus vielen unterschiedlichen Gesichtspunkten wahrzunehmen. Die chemischen Uniformen bzw. Denkmuster treiben mich immer wieder dazu, Gemeinsamkeiten zwischen bestimmten Musikern zu suchen. Die informatischen Uniformen bringen mich dazu, die Beschreibungen zu systematisieren bzw. zu algorithmisieren. Meine psychologische Uniform motiviert mich dabei zur Beschäftigung mit den kommunikativen Aspekten. Ich bin also auch ein Kind meiner Bildungsentwicklung.
Was würde passieren, wenn ich mich auch Textkritiken oder auf Gedichtkritiken stürzen würde? Wahrscheinlich würde ich vieles weiterhin aus kommunikativer Sicht analysieren. In welchem kommunikativen Umfeld ist das Gedicht einzuordnen. Was mich zur Zeit auch reizen würde, wäre eine Untersuchung von Gedichten aus der Sicht von Wortfeldern und der Sprache. Die Beschäftigung damit halte ich auch aus anderen Gründen noch für wichtig.
Aber deine Abscheu gegenüber dem "uniformierter Leser" liegt auf einer ganz anderen Ebene, als ich hier bisher geschildert habe. Die Uniform zerstört die Leidenschaft. Jedem Kunstwerk wohnt die Leidenschaft inne. Jedes meiner Worte hat sicher dein Unbehagen verstärkt, weil ich mit meinen Denkmustern den Leser gängele und führe und die Leidenschaft überhaupt nicht erwähne. Im gewissen Maße manipuliere ich den Leser und missachte den Künstler. Andererseits gehe ich davon aus, dass der uninformierte Leser seine Erfahrungen mit meinen Kritiken abgleicht und so auch bei unbekannten Konzerten einen ungefähren Eindruck vom Konzert bekommen kann. Wenn ich dies gut mache, werden immer mehr Leser meine Kritiken lesen. Damit wächst meine Verantwortung gegenüber dem Leser. Je häufiger mich die Leser lesen, desto mehr vertrauen die Leser auf die Beständigkeit meiner Denkmuster, um sich selbst ihre eigenen Gedanken machen zu können. Je mehr Leser mich lesen desto mehr Verantwortung und auch Macht bekomme ich, denn die Leser vertrauen mir dann. Ich nehme die Verantwortung und auch die Macht an. Es wäre an dieser Stelle natürlich einfach möglich, den vertrauensseligen Leser zu manipulieren. Aber durch die Verwendung von Uniformen möchte ich mich selbst auch gegen solche Manipulationen schützen. Die Uniform schränkt ein, aber die Uniform lässt dem Leser auch mehr Raum für eigenen Gedanken.
Du möchtest den Leser aufrütteln, indem du ganz offensichtlich deine Person gegen das Kunstwerk stellst. Damit hoffst du, dass der Leser sich wegen deiner persönlichen Sichtweise selbst seine Gedanken über das Kunstwerk bzw. über das Gedicht macht. Ein wesentliches Merkmal deiner persönlichen Kritik ist dabei die Leidenschaft, die du dem Kunstwerk entgegen bringst. Gerade die Leidenschaft fehlt meinen Kritiken fast vollständig. Dies Fehlen der Emotionen und Gefühlswallungen kritisierst du an den Kunstkritiken für den uniformierten Leser. Ich glaube, deine Kritik ist richtig und falsch zugleich. Langfristig halte ich eine systematische Kritik für besser, weil der uninformierten Leser die Chance hat, sich zu überlegen, wie er die Kritik lesen will.
Du schreibst weiter unten aber auch, dass die Leidenschaftslosigkeit der Kritiker dir als Künstler zu schaffen macht. Vielleicht ist eines klar geworden. Ich schreibe keine Kunstkritik für den Künstler. Ich schreibe eine Konzertkritik für einen uninformierten Leser, der vielleicht das nächste Konzert des Musikers besuchen will. Meine Verbesserungsvorschläge beziehen sich auf handwerkliche Schwächen, die manchen Konzertinszenierungen zugrunden liegen.

- Ist die Trennung von künstlerischen Akt und kultischen Fest gerechtfertigt? (Musik-Literatur?)
"... das publikum, so vorhanden, feiert ein (kultisches) fest. das kunstwerk selbst kann hier schon verfälscht vorhanden sein, nebensache sein. es braucht sich auch nicht um ein kunstwerk überhaupt zu handeln, damit ein kultisches fest gefeiert werden kann. hier, scheint mir, kommt dein wort von der kommunikation erst zum zug. hier kann sie stattfinden, nicht nur unter dem publikum, sondern auch zwischen publikum und künstler. voraussetzung fürs kunstwerk scheint sie mir nicht zu sein. ..."
Diese Unterscheidung zwischen Kunstwerk/künstlerischen Akt (Konzert) und kultischem Fest (Reaktion des Publikums aufs Konzert) finde ich interessant. Es gibt sicher Musikstile, bei denen eine solche Trennung wichtig ist. Ein Beispiel ist der neue Jazz. Bei anderen Musikstile ist das kultische Fest Bestandteil der Inszenierung. Ein Beispiel ist der Skapunk.
Ich möchte zuerst den Jazz untersuchen. Dort ist die musikalische Selbst-Inszenierung das Kunstwerk. Die Kommunikation mit dem Publikum ist vom Künstler nicht gewollt und wird auch vom Publikum nicht erwartet. Ich habe diese merkwürdige Atmosphäre beim Jazzfestival in Göttingen erlebt. Die Jazzmusik hat ihr Publikum gefunden. Die Anstrengung, die die Musik den Musikern und dem Publikum abverlangt, war aus der Gestik des Publikums bzw. des Musikers richtiggehend abzulesen. Im Jazz gehört die Selbstinszenierung des Jazzmusikers zum Konzert dazu. Meine Kritiken war wegen des Fehlens der Kommunikation nicht gerade positiv, aber ein Leser der Jazzmusik mag und das Jazzfestival genossen hat, wird wahrscheinlich meine zukünftigen Kritiken zum NewJazz entsprechend lesen. (Aber auch hier ist für mich nicht der Künstler der eigentliche Ansprechpartner, sondern der Konsument der Musik.) Der Jazzfreund wird wahrscheinlich sagen, dass ich von Jazz keine Ahnung habe, aber vielleicht wird er trotzdem die Kritiken lesen, weil sie immer nach dem gleichen Schema ablaufen.
Bei anderen Musikrichtungen gehört die Inszenierung von kultischen Festen wichtiger. Dies ist zum Beispiel typisch für den Skapunk. Der Ska hat seine Wurzeln in der englischen Arbeiterbewegung hat. In solchen Fällen gehört der kommunikative Aspekt zur Musikkritik.
Die Überlegungen zeigen, dass der kommunikative Aspekt nur manchmal zur Kunstkritik gehört. Für mich gehört deshalb die Beschreibung der Kommunikation zwischen Publikum und Künstler immer mit zu einer Konzertkritik. Durch diese systematische Gleichförmigkeit biete ich mit meiner Kritik dem Leser eine sekundäre Erfahrung an.
Übrigens würde ich den kommunikativen Aspekt auch bei manch anderen Aspekten erwarten. Beispielsweise bei Lesungen würde ich der Kommunikation zwischen Autor und Hörerschaft in der Kritik berücksichtigen. Auch bei Theateraufführungen würde ich die Reaktionen des Publikums beobachten. Dagegen macht ein solcher Aspekt bei Bilderkritiken oder bei Gedichtkritiken der kommunikative Aspekt wenig Sinn. Aber auch bei der Kritik von Musikceedees (CDs) spielt der kommunikative Aspekt keine Rolle mehr. Hier sind andere Aspekte wichtiger.
In welchem Umfeld ist das Kunstwerk entstanden?
Unter welchem Zeitgeist ist das Kunstwerk entstanden?
Welche Fragestellungen haben den Autoren beschäftigt?
Welche Stimmungen vermittelt das Kunstwerk?

Ich stimme übrigens dir zu, dass zu einem kultischen Fest nicht unbedingt gute Musik oder ein Kunstwerk gehört. Aber ein Künstler, der ein kultisches Fest veranstalten will, sollte das Handwerkszeug eines ordentlichen Animateurs beherrschen.


- Was ist ein Kunstwerk und was zeichnet den Kunstakt aus?
" ... man kann loben und missverstehen zugleich. man kann genau verstehen und doch ablehnen. ein kunstwerk braucht nicht (von allen) verstanden zu werden. es spricht für sich selbst, und wer nichts damit anfangen kann, lasse es bleiben. wohlverstanden, ich spreche immer noch vom kunstwerk, nicht von irgendeinem kulturellen produkt. kunst unterscheidet sich von andern werken durch die qualität, die innere lebendigkeit. gestaltungsvermögen, handwerk, der schöpferische daumenabdruck kommen hinzu. ..."
Das Lob oder die Kritik gehört für mich nicht zwangsläufig zu einer guten Kunstkritik, denn schließlich kann ich das Kunstwerk auch missverstehen oder ich kann den schöpferischen Daumenabdruck überhaupt nicht verstehen, weil er einfach zu neu und zu ungewohnt ist.
Beim "schöpferischen Daumenabdruck" musste ich übrigens an die amerikanische Psychologin Magaret A. Boden "Die Flügel des Geistes" denken. Sie beschäftigt sich in ihrem Buch mit der Kreativität aus psychologischer Sicht. Besonders wichtig halte ich ihre Unterscheidung zwischen historischer Kreativität und persönlicher Kreativität. Schon ein Kind kann persönliche Kreativität beweisen, wenn es sich selbst das freihändige Fahrradfahren beibringt. Das Kind hat durch den Lernakt seine bisherige persönliche geistig-körperliche Begrenzung überwunden. Die historische Kreativität definiert sie weitergehend. Bei der historischen Kreativität ist es einem Mensch zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit gelungen, etwas Neues zu denken, zu schaffen oder zu schreiben.
Der schöpferische Daumenabdruck des Künstlers liegt wahrscheinlich irgendwo zwischen persönlicher und historischer Kreativität. Ein guter Künstler muss nicht der erste gewesen sein, der etwas neu denkt, oder schafft. Aber ein guter Künstler gehört zu den ersten seiner Zeit, der seine persönliche Begrenzung und die Begrenzung durch den Zeitgeist überwindet. Manchmal kann es etwas länger dauern, bis der Zeitgeist (also die Nichtkünstler) merken, dass der Zeitgeist schon lange überholt ist. Wenn das der Fall ist, dann ist der Künstler lange Zeit unverstanden geblieben. Beispielsweise war Modern Talking auf gewisse Weise genial und innovativ, weil es die Retortenfertigung von Pop-Song auf die Spitze trieb. Die meisten Kritiker erregte damals eigentlich nur, dass das primitive Musikkonzept von Dieter Bohlen so offensichtlich erfolgreich funktionierte. Die meisten Kunstkritiker glauben, dass ein Kunstwerk wegen seine Neuheit nicht sofort erfolgreich sein kann - im logischen Umkehrschluss folgerten sie, dass Modern Talking keine Kunst gemacht haben kann. Ich sehe an der Stelle Dieter Bohlen auf dem gleichen Niveau wie Josef Beuss.
Insgesamt fällt es mir aber schwer, den Spirit und das Herzblut zu erkennen, welches sicher in Kunstwerken drinsteckt. Gerade weil ein Kunstwerk kreativ ist und mit der Überwindung persönlicher Grenzen zu tun hat, kann ich als Kritiker diese Grenzen nur selten kennen. Auch gibt es viele Grenzen, die man überwinden kann. Die Grenzen hängen von den Fragestellungen des Künstlers ab. Die Fragestellungen müssen nicht für die Allgemeinheit oder für mich gelten.
Manchmal bin ich auch schon verletzend geworden. Ich entsinne mich noch eines Gesprächs mit einem Liedermacher, der erstmals in seinem Leben mit einer Band zusammengearbeitet hat. Für diesen Musiker war es eine persönliche Herausforderung gewesen, an welcher er viel gelernt hat. Das Resultat war auf der CD "Habt euch lieb" zu hören gewesen. Ich empfand die CD als musikalischen Stillstand. Die Kritik war für ihn sehr verletzend gewesen, weil ich das Wesentliche seiner künstlerischen Arbeit nicht verstanden habe. Gerade wegen solcher Erfahrungen halte ich mich bei Bewertungen eher zurück. Ich kenne viele Hintergründe einfach nicht.

- "das künstlerische im menschen ist zwecklos. nicht selbstlos. gerade voller selbst:"
In dem Zitat hast du noch einmal kurz und knapp die Leidenschaft und das Herzblut ausgedrückt, welches in einem Kunstwerk steckt. Mir ist als Kritiker die Seele des Künstlers ersteinmal egal. Mir ist als Kritiker wichtig, dass ich dem uninformierten Leser einen verlässlichen immer wieder nach dem gleichen Schema ablaufenden Eindruck vom Kunstobjekt gebe. Dabei sollte das Schema den Vergleich zwischen möglichst vielen ähnlichen Kunstobjekten erlauben, so wie die chemischen Formeln die Beschreibung von vielen unterschiedlichen Molekülen ermöglichen. Gerade aus dieser Sichtweise heraus glaube ich, dass es Schemata für gute Kunstkritiken geben kann.
Dein Satz gefällt mir trotzdem und zeigt eine Grenze meiner Sicht auf.. Er zeigt, dass die Leidenschaft eine wichtige Motivation des Künstlers ist. Er zeigt, dass die Leidenschaft wahrnehmbar sein muss. Ich habe aber nicht verstanden, wie man diese Leidenschaft wahrnimmt. Vielleicht sollte ich auf diese Frage einmal stärker mein Augenmerk richten. Woran erkennt man Leidenschaft?

Was ist eine gute Kunstkritik? - eine Zwischenbilanz
Ich schreibe in erster Linie eine Kunstkritik für den Leser, der ein Kunstwerk nicht kennt und der sich darüber informieren möchte. Dabei setze ich bewusst auf bestimmte Schemata und Denkmuster, die sich immer wieder wiederholen. Die Widerholung ist wichtig, damit der Leser die Kritik als Quelle für eine "sekundäre Erfahrung" nutzen kann.
Die Kunstkritik richtet sich erst in zweiter Linie an den Künstler. Auch die persönliche Bewertung des Kunstwerks halte ich nicht für so wichtig, weil ich dem Leser die Freiheit zu eigenen Gedanken geben möchte. Vielleicht möchte er auch gar nicht nachdenken, dann soll es mir auch recht sein.
Meine Kunstkritiken fehlt sicher der Aspekt der Leidenschaft. Dies muss ich in Zukunft ändern.

In dem ersten Artikel habe ich die Frage gestellt: "Was grenzt eine Kunstkritik von einer Meinungsäußerung, von einer Schmährede, von einer Hymne oder von einem Nachruf ab?"
Im Gegensatz zu einer Meinung oder Schmährede beschreibt eine Kunstkritik das Kunstwerk nach verschiedenen Sichtweisen. Die Wertung wird die Kunstkritik eher den Lesern überlassen, denn letztendlich nehme ich als Kritiker schon mit der Auswahl der Informationen und Betrachtungsweisen eine Bewertung des Kunstwerks vor. Die persönliche Bewertung ist meist nur eine konsequente Schlussfolgerung meiner Informationszusammenstellung. Solche Bewertung sind überflüssig und gängeln letztendlich den Leser nur. Ich möchte aber, dass der Leser sich seine eigenen Gedanken macht.
Ich habe an dieser Stelle immer die Kunstkritik für den "uninformierten" Leser geschrieben. Dabei muss ich mir immer vergegenwärtigen, dass es eigentlich nicht den Leser gibt. Viele Leser nähern sich einem Kunstwerk mit unterschiedlichen Sichtweisen: Der Kritiker hat eine andere Sicht als der Künstler, der mit Herzblut sein Werk geschaffen hat. Die Zuschauer oder der Zeitgeist betrachtet ein Kunstwerk wiederum anders als beispielsweise ein Fan oder ein Sponsor.

Aber im möchte diesen Artikel nicht ohne eine Frage abschließen. Du schreibst, dass der Kritiker wie auch der Künstler um die Leidenschaft eines Kunstwerks weiß. Ich bin mir bei mir nicht sicher, ob ich in vielen Kunstwerken die Leidenschaft bemerke. Man sagt mir nach, dass ich "verkopft" sei. Trotzdem oder deshalb möchte ich einmal folgende Frage zur Diskussion stellen.

Wie merkst du die Leidenschaft bei einem Künstler im Kunstwerk?
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