geändert am 19.07.2006 - Version Nr.: 1. 23

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Alltag

Anekdotenbericht: Am 4. Juli erlebte Kuddelowski das Dortmunder Traumend-Spiel am Markt beim Gänseliesel und beobachtete den Umgang der Göttinger mit der Niederlage im Umfeld vieler italienischer Gastronomiebetriebe. Fußball hat viele Rituale aus dem Krieg in seine Fankultur eingebunden.

Bereich: Alltag ~ erzählen ~

Dr. Dieter Porth - GöttingenJedes Ereignis wurde im jeweiligen Zeitablauf beobachtet.. Lediglich die Person von Kuddelowski ist erfunden. Wegen dieser Vermischung von Realität und Fiktion wird, nennt sich dieser Textform Anekdotenbericht. Den Anekdotenbericht schrieb Dr. Dieter Porth.
Bei einer Siegesfeier nimmt jeder Mensch die Feier anders wahr. Vieles passiert an verschiedenen Orten. Jeder nimmt die Feier des Sieges der deutschen Mannschaft aus seiner Sicht wahr Viele Menschen denken und handeln ähnlich. Die Beschreibungen sind für den Anekdotenbericht dramaturgisch gesetzt worden, ohne aber den Zeitablauf der Siegesfeier zu verändern. Der Fußballfan Kuddelowski ist frei erfunden. Er wird mit seinem Gedanken zum Kommentator und Erklärer der Ereignisse während des Ereignisses der Niederlage.

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Pressemitteilung Bürgerstimmen im Göttinger-Land [ Homepage ] (Dr. Dieter Porth)

[Göttingen - 05.07.06] [Bericht]


Porth 2006 © Schattenspiel - das Gänseliesel wartet auf die Siegesfeier.

Schattenspiel - das Gänseliesel wartet auf die Siegesfeier.


Anekdotenbericht zur Ernüchterungsfeier nach dem Viertelfinale am 4. Juli am Markt
Hallo, ich bin Kuddelowski. Auch gestern konnte und wollte ich mich der Masseneuphorie nicht entziehen. Nach dem letzten Spiel hatte ich so viel Kraft gehabt, das die ganze letzte Woche leicht und locker von der Hand ging. Diesen Kick wollte ich mir auch diesmal wieder geben. Die ersten 80 Minuten des Halbfinalspiels verbrachte Kuddelowski zu Hause mit der dem Abwaschen von Geschirr und Bügeln. Im Hintergrund lief das Radio und das Auf und Ab des Fußballspiels erreichte Kuddelowskis Ohr. Zehn Minuten vor dem Ende des Spiels machte er sich auf den Weg in die Innenstadt.
Kuddelowski kam beim Markt an. Komisch. Hier geht richtig ein Graben durch die Zuschauer. Die einen sitzen links beim italienischen Wirt und die anderen sitzen rechts bei der "deutschen" Studentenkneipe. Wo setze ich mich hin? Naja, einwenig Nationalismus kann wohl nicht schaden, unterstütze ich doch mal die deutsche Mannschaft. Er setzte sich im neutralen Bereich an den Rand der deutschen Zone.
Von seinem Platz konnte er zwar das Fußballspiel im Fernsehen nicht wirklich sehen. Ähnlich wie ihm erging es auch vielen anderen Gästen. Sobald es spannend wurde, reckten sie die Hälse, um zu erkennen, was auf dem Bildschirm passierte. Dafür hatte er dort einen guten Überblick über den Marktplatz, wo ab und zu die Polizei mit ihrem Mannschaftswagen Präsenz zeigte. Sehen kann ich nicht wirklich etwas. Das Bild ist klein und die Bewegungen der Menschen vor mir lenken mich so stark ab, dass ich das Spielgeschehen kaum mitbekomme. Die Polizei zeigt aber mehr Präsenz als beim Viertelfinalspiel.
Nach dem Ende der regulären Spielzeit begann eine Wanderbewegung. Einzelne Gruppen von Jugendlichen und insbesondere von Backfischen wanderten von einer Kneipe zur nächsten. Vielleicht trägt diese jungen Frauen die Hoffnung, das es irgendwo besser ist. Oder sie suchen einfach nur einen schmucken stattlichen Mann als neuen Freund. Das Spiel ging in die Verlängerung und Kuddelowski hatte mehr Zeit, die Endphase des Halbfinalspiels zu beobachten. Kuddelowski wandte seine Aufmerksamkeit der Geräuschkulisse zu. Über den Marktplatz schallten von einer anderen Kneipe die Schlachtenrufe "Deutschland, Deutschland" vernehmen. Nach einiger Zeit, ungefähr 30 Sekunden, wurden diese Schlachtgesänge von einigen anderen Gästen übernommen. Die Schlachtengesänge   Kommentarpiktogramm  gingen wie wellen durch die Stadt. Einmal konnte Kuddelowski die Entstehung einer solcher Welle von Schlachtgesängen.. Drei Jugendliche kamen in die Nähe der Zuschauer und ein Jugendlicher hatte eine "luftgefüllte Hand". Nachdem er sie aufgepustet hatte, wollte er sein neues Spielzeug unbedingt einmal ausprobieren und stimmte kraftvoll den Schlachtruf "Deutschland, *bumm-Bumm-Bumm* Deutschland" an. Sofort stimmte das Publikum vor den Fernsehern mit ein. Als sie aufhörten, konnte man im Hintergrund von den anderen Kniepen entsprechende Schlachtrufe hören. Mist. Wer steigt zuerst auf solche Schlachtrufe ein? Sind es die Männer oder die Frauen? Ich weiß es nicht. Insgesamt habe ich das Gefühl, das die Frauen enthusiastischere Fans als die Männer sind. Irgendwie nehmen sie das Spiel auch ernster.
Mit solchen und ähnlichen Gedanken war Kuddelowski beschäftigt, als die das Siegtor der Italiener fiel. Er hatte es gar nicht mitbekommen. Warum stehen die jetzt auf. Was ist passiert. Ach, haben die Italiener ein Tor geschossen. Die Deutschen Spieler werden es noch reißen. Kurz danach fiel das zweite Tor und der Schlusspfiff ertönte. Oh was ist hier los. Warum stehen die alle auf. Ist das Spiel schon zu Ende?
Die Obdachlosen blieben übrigens auch während der Fußball-WM ausgegrenzt. Zum Ende des Spiels vertrieb die Polizei die Obdachlosen vom Gänseliesel. Einen Platz vor den Fernsehern bekamen diese Menschen trotz ihrer Fahnen nicht. Die Ausgrenzung funktioniert tadellos - auch oder gerade auch in einer toleranten Universitätsstadt. Wissen schützt nicht vor Vorurteilen.
Die Niederlage und die Zeit danach
Viele Gästen standen auf. Mit gesenkten Schultern, den Blick auf den Boden gerichtet und schnellen Schrittes gingen viele Menschen in Richtung der Bushaltestellen und zum Taxihaltestand. Vielleicht waren auch einige schon auf dem Weg zu ihrem Parkplatz. Die Fahnen wurden aber trotzdem offen gezeigt und nicht schamvoll versteckt. Wenn die Niederlage wirklich zu Herzen gehen würde, dann würden viele wohl die Fahnen oder die vielen kleinen Kleidungsstückchen, wie Halsband verstecken. Aber warum machen die Menschen das nicht.
Schon nach kurzer Zeit bevölkerten zwei bis dreihundert Menschen den Marktplatz. Nach kurzer Zeit war das Gänseliesel umlagert von vielen deutschen Fans. Schon nach kurzer Zeit standen auf dem Rand des Brunnens viele Backfische. Daneben standen die jungen Männer. Fahnen wurden geschwenkt. Die Backfische posierten für die Camera ihrer Freunde und Freundinnen. Sieg oder Niederlage ist ihnen egal. Sie wollen feinern und feiern. Wie entstehen die Schlachtrufe "Deutschland, Deutschland". Im Laufe der Zeit kamen weitere Menschen auf den Markt, aber viele hielten Abstand zum Gänseliesel. Auch die Trommler vom Viertelfinale waren wieder da. Diesmal waren die Trommelrhythmen länger - sie klangen lauter. Irgendwie klingt das Trommeln aggressiv. Es war länger wie beim letzten Mal - und lauter. Was fühlen diese Menschen. Was fühle ich? Leere.
Nach einiger Zeit kamen die deutschen weniger enthusiastischen Fans näher an das Gänseliesel heran. Sie waren weniger als beim Viertelfinalspiel. Damals war der Marktplatz voll. Nur im Umkreis von zehn Meter um das Gänseliesel traubte die Menge zusammen. Der Marktplatz war vielleicht zu einem Drittel mit Menschen gefüllt. Im Laufe der Zeit probierten die Schlachtenrufer verschiedene Schlachtrufe aus. "Deutschland Deutschland". Das hässlichste Skandieren war der Ruf "Scheiß Italiener". Aber diese Schlachtrufe fanden nur einmal Beiklang durch das Publikum. Als Kuddelowski ging, kreisten die Schlachtrufe um Deutschland und Kliensmann.
Oh das kommt ein einzelner Fan mit einer großen italienischen Flagge. Der ist aber mutig. Dies war wohl der "Späher" der italienischen Fans. Er umkreiste einmal das Gänseliesel und zog entlang der Weender Straße ab. Nach ungefähr zehn Minuten, also eine knappe halbe Stunde nach dem Sieg der Italiener, kam eine Gruppe von 40 bis fünfzig Italien-Fans die Weender Straße hinauf. Kuddelowski stand abseits. Oh, jetzt wird die Situation kribbelig. Wenn sie zu schnell sich bewegen, oder wenn die Zahl der fanatischen Fußballfans zu groß ist, kann es zu Kabbeleien oder auch mehr kommen. Die Schlachtenrufer auf dem Gänseliesel begannen Deutschland rufe zu skandieren. Zum Glück unterbleiben die Schmährufe gegen Italien. Der Zug der Italienfans hielt ungefähr 15 Meter vor dem Gänseliesel inne. Anschließend bewegten sie sich auf das Gänseliesel zu. Die Masse der Deutschlandfans ließ Ihnen nur die Rückseite des Gänseliesels - also den Raum zwischen dem alten Rathaus und dem Gänseliesel. Dort schwangen die italienischen Fans ihre Fahnen und feierten ihren Sieg. Das Erklimmen der Kuppel wurde durch einen italienischen Fan, wurde aber nicht zugelassen und die italienischen Fans ließen es hier nicht auf einen Konflikt ankommen. Den holen die da runter. Oh, gut, er lässt sich überzeugen. dass es wohl angesichts der Wut und Trauer der deutschen Fans überzogen wäre. Nach ungefähr einer halben Stunde verließen die italienischen Fans wieder den Platz um das Gänseliesel. Sie haben Stärke gezeigt und feiern jetzt im privaten ihren Sieg. Bei der Fußball-WM geht es nicht um Sport und Kräftemessen, es ist bewusst zu einem ritualisierten Krieg gemacht worden. Das Fazit der Fans wird wohl lauten: Diesmal haben wir die Schlacht verloren, aber der Krieg um den besten Fußball und als das Andere geht weiter.
Es gab aber nicht nur Vernunft und Beruhigung auf Seiten der Italiener. Ein deutscher Fan fummelt mit seinem Feuerzeug und wollte eine italienische Flagge abbrennen. Benachbarte Fans, die dies sahen, brachten ihn davon ab. Puh, eine brennende Flagge hätte beide Seiten aufgepuscht und eine Prügelei entzündet. Das ritualisierte Kräftemessen nach dem Sieg der italienischen Mannschaft hätte zur echten Prügelei werden können; ob das diesem Fan klar gewesen ist.

Auf dem Rückweg
Auf seiner Fahrt sah er am Straßenrand einen Backfisch alleine stehen und die Deutsche Fahne schwenken. Sie hatte eine zweite Fahne um die Hüften geschnürt und rief allen vorbeifahrenden Autorfahren und Fahrradfahrern zu: "Die Niederlage war unverdient." Frauen nehmen wirklich immer alles so ernst. Das Traumend-Spiel kam hat früher als gewünscht.

Am Schreibtisch
Irgendwie erinnert mich das Fußballspiel an eine verlorene Schlacht im ewigen Krieg um das Bessersein. Irgendwie ist der Sport ritualisierte Krieg um Status. Es macht Angst, denn es zeigt, wie manipulierbar die Gefühle und Handlungen der Menschen sind. Und eine Masse von Menschen bekommt auch schnell eine Eigendynamik. Solche Eigendynamik kann viel schaffen oder auch zerstören.

Porth 2006©Eine Grenzzone grenzzone trennte die Gäste beim Fernseher des italienischen Wirts vom deutschen Wirt. Dies ist die italienische Seite.

Eine Grenzzone grenzzone trennte die Gäste beim Fernseher des italienischen Wirts vom deutschen Wirt. Dies ist die italienische Seite.


Porth 2006 © Die Tische in der Grenzzone waren unbesetzt. Nur die Polizei zeigt im Hintergrund Präsenz.

Die Tische in der Grenzzone waren unbesetzt. Nur die Polizei zeigt im Hintergrund Präsenz.


Porth 2006 © Die Zuschauer auf der deutschen Seite unterscheiden sich nicht wirklich von den Besuchern auf der italienischen Seite.

Die Zuschauer auf der deutschen Seite unterscheiden sich nicht wirklich von den Besuchern auf der italienischen Seite.



Porth 2006 © Sogfort nach der Niederlage begann die Sicherung des Gänseliesel durch die deutschen Fans.

Sogfort nach der Niederlage begann die Sicherung des Gänseliesel durch die deutschen Fans.


Porth 2006 © Trotz Ihres Enthusiasmusses feierten sie nur kurz zusammen auf dem Gänseliesel mit. Fußball ist ritualisiertes Kräftemessen und Italien hat diesesmal gewonnen.

Trotz Ihres Enthusiasmusses feierten sie nur kurz zusammen auf dem Gänseliesel mit. Fußball ist ritualisiertes Kräftemessen und Italien hat diesesmal gewonnen.


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